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(Mehr als eine) Rezension "Wenn wir wieder wahrnehmen" von Heike Pourian

von Hardy Fürch

Als ich von Heike Pourians Buch Wenn wir wieder wahrnehmen und deren Aktionsform Standig with the Earth erstmalig hörte, war ich augenblicklich interessiert, ich wollte gleich mehr darüber erfahren. Ja, die Welt, die Erde, die Menschen vollständig wahrnehmen – das war schon immer ein zentrales Thema in meiner politischen Arbeit und Yoga-Lehrpraxis.


Sofort fiel mir der Bewusstseinsforscher Jean Gebser (1905 – 1973) ein, der den schönen Begriff „Wahrgeben“ einführte. Für mich galt seitdem, dass ich erst einmal umfassend wahr-nehmen müsste, um dann wahr-geben, also Yoga unterrichten oder Politik machen zu können.


In dem Buch geht es zentral um „Berührt-Werden“ im umfassenden Sinn. Das ist bei mir auch wörtlich zu nehmen: Ich nehme die Welt intensiv über den kinästhetischen Kanal wahr, körperliche Berührungen sind für mich wesentlich für mein So-Sein in der Welt. Das deckt sich mit den Erfahrungen, die Heike Pourian als Kind und Erwachsene gemacht hat. Und dieses „Satt“-werden-Wollen durch körperliche Berührungen ist kein irgendwie geartetes „Defizit“, wie ich es bei mir oft dachte, sondern durchaus menschlich, durchaus notwendig für das tiefere Wahrnehmen von allem. Wo ich z udem Resonanz mit der Autorin verspürte, war die Erfahrung, dass Menschen, die auf eine bestimmte Art Fühlen und Denken („transcend and include“ im Sinne der Integralen Theorie: https://www.integralesforum.org/medien/integrale-bibliothek/theorie-grundlagen/2818-ebenen-der-entwicklung) , sich im gesellschaftlichen Mainstream tendenziell einsam fühlen können, weil hier der tiefere Resonanzraum sehr rar ist.

 

Das Buch gibt in weiten Teilen die persönlichen Erfahrungen und Perspektiven der Autorin wieder. Diese Offenheit und Authentizität haben mich berührt und mitgenommen in die vielfältigen Bereiche und Themen, die dieses Buch anspricht. Diese Vielfalt liest sich für mich wie ein Kompendium der Körper- und Bewusstseinsarbeit: Gewaltfreie Kommunikation, Transaktionsanalyse, Integrale Theorie/Spiral Dynamics, Polyvagaltheorie, Sprache und Bewusstsein, Tiefenökologie, um nur einige zu nennen – und natürlich Contact Improvisation. Obgleich sehr vielfältig und anspruchsvoll, empfand ich die Vielzahl der angesprochenen Bereiche, Einschübe und Fußnoten nicht als überladen, sondern durchaus folgerichtig, das Thema bereichernd und sprachlich phänomenal auf den Punkt gebracht. Auch beschreibt die Autorin ihre Erfahrungen und Zielsetzungen fast immer aus einer multiperspektivischen Sicht, aus der Meta-Perspektive des Sowohl-als-Auch, die kein Raum lässt für ein Entweder-Oder.


Das Buch ist meinem Empfinden nach in einer sehr schönen, klaren Sprache geschrieben. Und die Autorin traut sich wirklich was, als sie die (politischen) Folgen der weit verbreiteten mangelnden Verwurzelung und Erdverbundenheit vieler Menschen anspricht, ich zitiere:


"(…) Und darin wird deutlich, dass Ideologien – egal welcher Art – eben auch nur ein weiterer Versuch sind, durch gedankliche Konstrukte Sicherheit zu erzeugen. Sie verfolgen nur unterschiedliche Strategien. Sehr vereinfacht: Die „rechte“ Strategie begegnet der Unverbundenheitswunde durch starre Grenzen, also indem sie alles Fremde und Andersartige ablehnt unter dem Vorwand, es könne die heimatliche Kultur verwässern, bedrohen, unterwandern. Eine „grüne“ Ideologie ist eher auf der Seite der Grenzlosigkeit unterwegs. Sie entzieht sich der Auseinandersetzung, indem sie verkündet: Alles ist gleich gut. Wir müssen um jeden Preis tolerant und aufgeschlossen sein. In beidem steckt etwas Wahres – und keines taugt als alleinige Wahrheit." (S. 157-158)


Wer weiß, wie vehement das Grüne Meme (Bewusstseinsebene im Sinne von Spiral Dynamics) reagieren kann, wenn es mit seinen (ideologischen) Schatten konfrontiert wird, der kann hier ob der Klarheit der Autorin nur den Hut ziehen. Ich nehme an, dass diese Sicht bei den Leser:innen des Buches, die ja meiner Einschätzung überwiegend im Grünen Meme zuhause sind, noch rege Diskussionen nach sich ziehen wird. Allerdings hätte ich mir an dieser Stelle gewünscht, dass die Autorin sich hier ausdrücklich auf das Bewusstseinsmodell Spiral Dynamics bezieht und nicht parteipolitisch grüne Politik meint, wenn sie hier den weit verbreiteten kulturellen Relativismus („alle Kulturen sind gleich gut“) des Grünen Memes anspricht. Denn es ist mittlerweile bei den grünen Parteien Konsens, dass eben nicht „alles gleich gut“ und daher ggf. die universellen Menschenrechte relativbar seien. Leider kann so der Eindruck entstehen, dass die Autorin einer m.E. nicht angemessene Äquidistanz zu „rechten“ Ideologien wie der von AfD oder FPÖ und zu den Politiken der Grünen in Deutschland oder Österreich das Wort redet,  vulgo: Nazis und Grüne seien gleich „schlecht“. Ich befürchte, dass aus diesem Grund so manche:r Leser:in an dieser Stelle das Buch zuklappen könnte.


Zwei Dinge erscheinen mir – in dieser Kombination – anders als in anderen vergleichbaren Büchern: Die Autorin lädt an manchen Stellen den/die Leser:in zum Nachspüren des Gelesenen und zum Aufschreiben der Gedanken und Gefühle ein. Meinem Empfinden nach wird so der Textinhalt einem tieferen inneren Erleben und einer Selbstreflexion zugeführt, er wird tiefer „verankert“. Textstudium als Selbst-Studium – Svadhyaya im besten Sinne.


Unterstützt wird dieser ganze Prozess mit Grafiken und Bildern von Sibylle Reichel, die in mir bildliche Resonanzen zum Textinhalt hervorgerufen haben. Sibylle Reichel ist es m.E. gelungen, mit ihren Darstellungen eine Brücke zum Text zu schlagen und so noch eine weitere innere Tür zu öffnen.


Nun, wohin sollten wir uns entwickeln, zum Wohle aller Wesen, zum Wohle des Ganzen? In welche neue Kultur sollten wir uns hineingebären?


Heike Pourian zielt darauf hin, dass wir im Sinne von Joseph Beuys‘ Sozialer Plastik einen Sozialen Uterus kreieren, in dem wir unseren Wesenskern als spürende, wahrnehmungsfähige, sinnliche, tiefverbundene und vertrauende Lebewesen wahrnehmen können. Dieser Uterus soll kein Raum für Regression ins Vorgeburtliche sein, wie ich es selbst bei manchen Mother-Earth-Ritualen erlebt habe, sondern ein (zuweilen geschützter) Freiraum für Weiter-Entwicklung, für das Wieder-Wahrnehmen der Tiefe allen Seins und – auch wesentlich – das Einander-Begleiten in diesem Prozess. Die Autorin:


"Wenn wir Menschen uns nun in eine neue Kultur hineingebären wollen – oder: müssen, oder: werden – dann wird es helfen, wenn wir einander auf genau diese Weise dabei begleiten. Bei dem großen umfassenden Wandel, der uns jetzt bevorsteht –  nein, im dem wir bereits stecken – braucht es immer wieder Menschen, die in der Lage sind zu erkennen, wenn der Blick auf das Alte eine*n oder mehrere von uns in die Hilflosigkeit und Ohnmacht, in die verengte Wahrnehmung zurückzieht. Ich wünsche mir, dass wir uns darin schulen, zu beobachten und zu benennen, an welchen Stellen wir uns weigern, mehr als das Bekannte für möglich zu halten." (S. 525)


(…)


"Wir stehen mit der Erde. Ganz allmählich wachsen und sinken wir in das Bewusstsein hinein, dass wir als die Erde dastehen: Standing with the Earth ist ein Aufruf zum gemeinsamen Innehalten und Wahrnehmen in Zeiten tiefgreifender Krise und Ratlosigkeit. Die Praxis kann uns unterstützen, weder in lähmende Verzweiflung, noch in blinden Aktionismus zu verfallen. Sie kann als Nährboden dienen für unser vielfältiges Tätigwerden. Eine Haltung, aus der heraus wir ins Handeln kommen. Gemeinsam die Verbundenheit mit der Erde wieder spüren – das Schmerzliche wie auch das Wundervolle -, das ist im Moment vielleicht das Radikalste, was wir tun können." (S. 392)


Heike Pourian hat für diesen Prozess des individuellen und kollektiven Wandels das somatisch-politische Netzwerk Sensing the Change gegründet:


Sensing the Change ist ganz vieles auf einmal:
•    ein Zusammenschluss von Menschen, die sich der Bewusstseinsentwicklung und dem (Er)finden einer regenerativen Kultur auf der Grundlage von Sinnlichkeit und Körperlichkeit widmen;
•    ein Netzwerk, in sich Menschenaustauschen, inspirieren, ermutigen und gemeinsame Projekte entwickeln können – Menschen, die vermuten, dass der Wandel nicht nur denkend vonstatten gehen wird, sondern eine Basis im Spüren und Wahrnehmen braucht;
•    eine Bildungsinitiative, um Erkenntnisse über Wahrnehmung, Kreatürlichkeit, Feldbewusstsein, Nervensystem, Traumasensibilität, Regulation und Resilienz vielen Menschen zugänglich zu machen (über Texte, Vorträge, Seminare, Erfahrungsräume, Multiplikator*innenschulungen);
•    ein Forschungsraum, in dem wir in fokussiertem und möglichst sicherem Rahmen spürend, spielend, lauschend und selbstermächtigt neue Qualitäten menschlichen Miteinanders erleben und reflektieren, um Bedingungen zu schaffen und uns dabei unterstützen, in unser volles Potenzial zu wachsen;
•    ein Impuls für spürenden politischer Aktivismus, der z. B mit Standig with the Earth das Wahrnehmen als Wandelimpuls in die Öffentlichkeit bringen möchte;
•    Eine Bewegung in den Kinderschuhen, die im Moment damit beschäftigt ist, sich selbst stimmige Entscheidungs- und Organisationsstrukturen zu schaffen, um auf gesunde Weise zu wachsen, ihre eigenen Möglichkeiten zu entfalten und Grenzen zu erkennen, um vielfältig wirken zu können. (S. 460)
Mir hat das Buch Mut gemacht und mich wieder daran erinnert, was für mich wirklich zählt.

Bezugsquelle für das Buch: https://wahrnehmen.org/bestellen/wwww

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